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Herbert Lindner

PROZESS UND INSTITUTION - EIN BEITRAG ZU PRIORITÄTENDEBATTE

Wer nach Prioritäten fragt, möchte konkrete Antworten erhalten, was zu tun, und vor allem, was zu lassen ist. Die langdauernde Debatte zu diesem Thema in den evangelischen Kirchen Deutschlands hat solche Antworten bis heute nicht erzielen können. Ein Grund liegt wohl darin, dass den Verfahren, die zu wirksamen Prioritäten führen, bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.Handlungen müssen sich ändern, nicht nur Strukturen.

Die aktuelle Debatte geht am Kern vorbei

Die augenblicklichen Spar- und Reorganisationsdiskussionen versuchen die Organisationsgestalt zu verändern, nicht primär die Ergebnisse kirchlichen Handelns. Sie fragen danach, wieviel Stellen der Bereich A oder B erhalten und welche Organisationsformen es in ihm geben soll. Es wird entschieden, ob die Institution C neu errichtet und die Einrichtung D verkleinert, geschlossen oder umorganisiert werden soll.

Solche Fragen sind nachrangig. Grundlegende Probleme einer Kirche werden nicht schon dadurch gelöst, dass sie sich laufend umbaut. Sie werden nur durch andere Handlungen verändert. Reformen sind erst dann geglückt, wenn das Gemeindeglied Kirche anders erfährt - und sich selbst möglicherweise daraufhin verändert. Die Prioritätendebatte muss also zunächst klären, was Kirche unbedingt erreichen muss, um dann die dafür notwendigen Maßnahmen und die ihnen angemessenen Organisationsformen zu bestimmen.

Religiöse Sozialisation, Entwicklung der Mitarbeitenden und Sicherung der Finanzquellen sind die drei überlebenswichtigen Prioritäten

An drei Grundtatsachen fallen die Entscheidungen für die künftige Kirchengestalt

Der folgende Gedankengang hat zwei Voraussetzungen: Er setzt voraus, dass die wichtigste Funktion der evangelischen Kirche die "Kommunikation des Evangeliums" mit dem Ziel der Begründung und Erneuerung der Gottesbeziehung ist. Und er geht zweitens davon aus, dass für dieses Ziel eine "Volkskirche" - verstanden als eine große, öffentlich bedeutsame Institution - in unserer geschichtlichen Situation in Mitteleuropa eine angemessene Form der Kirche Jesu und deshalb erhaltenswert ist. In der gegenwärtigen Wirtschaftslage ist daneben auch die Zahl der Mitarbeitenden in einer großen Kirche von erheblicher ethischer Bedeutung.

Mit diesen Voraussetzungen lassen sich drei grundlegende Tatsachen herausarbeiten. Sie sind die entscheidenden Hebel für Entwicklungen dieser Kirchengestalt zum Besseren oder Schlechteren. Und sie haben Konsequenzen.

In einer Volkskirche werden fast alle Kinder von Kirchenmitgliedern zur Taufe gebracht. Formal sind damit auch sie Mitglieder geworden. Aber nur wenn diese getauften Kinder religiös erzogen werden, füllen sie diese Mitgliedschaft mit Inhalten. Eine Volkskirche gewinnt ihre Mitglieder demnach durch einen Prozess der religiösen Primärsozialisation und hält sie durch eine sinnstiftende Lebensbegleitung.

Deshalb muss der Prozess der religiösen Sozialisation gelingen und zu einer grundlegenden persönlichen Glaubenshaltung führen, die im Lebenslauf mitwächst.

Die "Leistungen" dieser Kirche werden weit überwiegend in der Kommunikation von Personen erbracht. Volkskirchen haben eine große Zahl von hauptberuflich tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Deshalb müssen Mitarbeitende in der Lage sein, diesen Kommunikations-Prozess als Überzeugte überzeugend zu gestalten.

Eine Volkskirche bedarf großer Finanzmittel. Die vielgeschmähte "Flächendeckung" als rasche Erreichbarkeit ist eine ihrer Stärken. Um eine bedeutsame Rolle in der Mediengesellschaft zu spielen sind hohe Investitionen in neue Kommunikationsformen erforderlich.

Deshalb müssen ausreichend sichere Finanzquellen zur Verfügung stehen, um ihre Kernleistungen mitgliedernah, flächendeckend und professionell anzubieten.

Nun wird ja alles dies bereits versucht. Angesichts der sich rasch wandelnden Umwelt sind die Ergebnisse dieser Bemühungen allerdings gemessen an ihrem Aufwand zu gering. Sonst hätten wir die gegenwärtige Krise ja nicht. Eine einfache mengenmäßige Verstärkung der Anstrengungen - so wünschenswert sie ist - wird es auch nicht tun. Um diese Funktionen erfolgreich ausführen zu können bedarf es stimmiger Konzepte.

Nicht Basteleien, sondern Konzepte sind nötig

Drei Konzepte sind also nötig:

  • Ein Sozialisationskonzept, das durch ein Konzept der Glaubensentwicklung im Lebenslauf weitergeführt wird.
  • Ein Personalkonzept, das die Gaben der Mitarbeitenden zur Kommunikation des Evangeliums bestmöglich fördert und Stellen bereitstellt, diese Gaben einzusetzen.
  • Ein Finanzkonzept, das die Erbringung und Verwendung der Mittel zuverlässig steuert.

Erst wenn diese Aufgaben beschrieben sind, lassen sich sinnvollerweise auch die Organisationsformen bestimmen.

Religiöse Primärsozialisation als Beispiel

Gelingende Primärsozialisation ist die Überlebensbedingung der Volkskirche

Am Beispiel des wohl wichtigsten Bereichs der religiösen Sozialisation soll dieser Gedankengang im Folgenden exemplarisch ausgeführt werden.

In einer Volkskirche werden als Säuglinge Getaufte im Prozess der religiösen Erziehung zu dem, was sie eigentlich schon sind: Mitglieder der Kirche. Das teilweise oder völlige Mißlingen dieses Prozesses schwächt den Mitgliederbestand der Volkskirchen. Dies gilt um so mehr, als andere Stützen der Kirchenmitgliedschaft wie Tradition und stabile Lebensverhältnisse zunehmend brüchiger werden. Eine gelingende religiöse Sozialisation von Einzelnen führt zu überzeugten, bewußten und stabilen Mitgliedern. Wenn dieser Bereich schwach wird, stehen alle anderen Bereiche auf tönernen Füßen. Oder nüchtern gerechnet: die Gewinnung eines Erwachsenen ist mindestens fünf Mal so schwierig (und teuer) wie die Gewinnung eines Kindes oder eines Jugendlichen.

Theoretisch ist dies einsichtig. In der Praxis wird die augenblickliche Schwäche dieses Bereichs selten klar erkennbar, weil sich die Wirkung von Sozialisationsprozessen im Generationensprung vollzieht und deshalb erst nach Zeiträumen von 10 bis 20 Jahren greifbar wird. Religionssoziologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich in diesem Bereich ein dramatischer Wandel wenn auch in langsamen Tempo vollzieht. Das Klima ist nicht durch Feindschaft gegenüber der Kirche gekennzeichnet, eher im Gegenteil. So ist die Taufbereitschaft evangelischer Eltern in den letzten Jahren sogar noch gestiegen. Aber es gelingt den Kirchen immer weniger, ihre Glaubensinhalte in einem Meinungsklima der Offenheit und Selbstbestimmtheit überzeugend zu vermitteln. Der Wunsch nach Begleitung durch die Amtshandlungen wie Taufe oder Konfirmation allein wird auf die Länge der Zeit die Kirchenmitgliedschaft nicht tragen, auch wenn er diakonisch abgestützt ist.

Integration statt eifersüchtige Abgrenzung

Wie könnten die Umrisse eines Konzepts religiöser Sozialisation aussehen? Eine erste Vorbedingung besteht darin, dass alle Maßnahmen aller Träger in dem Bereich zwischen Taufe und Konfirmation auf allen Ebenen zusammengesehen und zusammengedacht werden. Ihr inhaltliches Ziel ist die Ausprägung eines persönlich angeeigneten Glaubens- (und Lebens-) stils. In Ansätzen sollte dies bis zum Abschluß der Pubertät gelungen sein. Weiterführend erscheint in diesem Feld der Ansatz der Symboldidaktik, der anhand weniger Grundsymbole (Wasser, Licht, Kreuz, Hand, Brot und Wein, Name ...) den Glaubensvollzug tief in der Person verankert. Darauf kann dann ein Konzept der Lebensbegleitung aufbauen.

Die Gottesbeziehung auch der modernen Menschen ist in den Übergängen der eigenen Biografie verankert. Die fortdauernde - und sogar noch gestiegene - Bedeutung der Kasualien ist dafür der Beleg. Zentraler Lebenswunsch für die Mehrzahl ist die Suche nach Geborgenheit und nach einem gelingenden Leben in personalen Beziehungen. An den Übergängen der persönlichen Biografie oder des Lebens einer Gemeinschaft wird dies vermisst oder deutlich erlebt. Deshalb wird hier die Frage nach Gott besonders hartnäckig gestellt - und der Kontakt zur Kirche gesucht. Menschen wünschen sich, mit Hilfe ihrer Gottesbeziehung das Leben besser bestehen zu können. Hier kann ein neues Konzept der Lebensbegleitung ansetzen. 

Zusammenfassend läßt sich die Hauptaufgabe einer evangelischen Kirche deshalb als "Glaubensentwicklung im Lebenslauf" beschreiben. Dies ist ihr "Kernprozess", der Schnittpunkt zwischen ihrem Auftrag, ihrer Kompetenz und der Erwartung ihrer Mitglieder. Stabilisierung des evangelischen Kirchensystems ist demnach nur von einer Konzentration auf diesen Kernprozess zu erwarten.

Handlungsfelder müssen zusammenwirken, um Prozesse gelingen zu lassen

Das Zusammenwirken vieler Handlungsfelder ist nötig, um diese Prozesse gelingen zu lassen

Was heißt das nun konkret? Der Versuch, diese Priorität "Förderung der Glaubensentwicklung im Lebenslauf" umzusetzen, führt zunächst auf das Feld Erziehung / Bildung / Unterricht. Aber es ist nicht damit getan, einfach mehr Geld und mehr Personal in dieses Arbeitsfeld zu investieren. Denn im konkreten Vollzug ist es gerade das stimmige Zusammenwirken von gottesdienstlich-verkündigendem, erziehlich-bildendem und seelsorgerlich-begleitendem Handeln, das das Entstehen einer protestantischen Glaubenspersönlichkeit fördern kann. Das Zusammenwirken verschiedener Handlungsformen der Kirche auf dieses Ziel hin ist also die entscheidende Fähigkeit. Sie setzt funktionsfähige Einzelfelder voraus, also verständliche Predigten, einfühlsame Taufgespräche, kindgerechte Kindertagesstätten u.s.w. Wenn diese aber - wie bisher - die Tendenz besitzen, sich zu "versäulen", ihren Aspekt als den alleinseligmachenden zu begreifen und zu verteidigen, vielleicht sogar eigene Gemeinde- oder Gruppenbildungen zu versuchen, ist mit einer unterschiedlichen Gewichtung von Handlungsfeldern und deren isolierter Steuerung noch wenig gewonnen. Eine Ansammlung von Solisten, und seien sie noch so gut, ist noch keine Garantie für eine gute Musik!

Ortsgemeinden haben eine hohe Bedeutung

Diese Prioritätenbestimmung führt auf die Wichtigkeit örtlicher Gemeinden. In den angeschnittenen Bereichen haben sie eine starke Stellung. Sie haben die Chance, "vor Ort" verschiedene Handlungsfelder mitgliederbezogen zusammenzufügen. Umgekehrt: wenn sie ihre Aufgaben nicht verläßlich erfüllen, leidet die Gesamtkirche.

So sehr die Stärkung von "Primärprozessen" ansteht, so wenig darf die Ortsgemeinde mit "Primärprozess" und ein funktionaler Dienst mit unnötigem Allotria gleichgesetzt werden. Deswegen sollte eine kluge Finanzsteuerung den Institutionen mehr Mittel zur Verfügung stellen, die die Aufgabe der religiösen Grunderziehung gut erfüllen, und denen Geld entziehen, die dies nur unzureichend tun.

Ergebnisse sind wichtig, nicht Absichtserklärungen

Dies erfordert einen tiefgreifenden Wandel von einem Denken in Institutionen und Strukturen hin zu einer Bewertung von Ergebnissen. Es reicht nicht, dass eine Institution Ergebnisse erzielen könnte, sie muß es auch wirklich tun. Um dies zu erreichen, bedarf es einer verbesserten Leitungs- und Steuerungsfähigkeit. Sie wird energisch daran arbeiten, das unfruchtbare Nebeneinander von funktionalen Diensten und lokaler Gemeinde mit dem Ziel einer gemeinsamen Bemühung aufzuheben.

Damit werden überparochiale Werke und Dienste in doppelter Weise gefragt. Zum einen wird ihre Unterstützungsfunktion für eine wirksame (Gemeinde)-Arbeit in ihrer Bedeutung klarer sichtbar. Wenn man mit ihrer Hilfe besser arbeiten kann, gibt es neue Kriterien der Zusammenarbeit. Zum anderen werden ihre Leistungen in Bereichen und bei Personen, die die lokalen Gemeinden nicht erreichen, honorierbar.

Die Priorisierung von Ergebnissen erlaubt eine flexible Steuerung

Wenn Prozesse und deren Ergebnisse statt Institutionen bewertet werden, gewinnen leitende Gremien in der Kirche neue Spielräume zur Feinsteuerung. Wer weiß, was er unbedingt erreichen will, wird freier und erfinderischer in Wahl der Wege als der, der nur weiß, was er tun möchte. Das erfordert natürlich eine Freigabe der Mittelverwendung bei den Anwendern. Ergebnis-Priorisierung erlaubt auch die projektbezogene Förderung bestimmter Maßnahmen. Projektgebundene Zuschüsse können motivieren und steuern und so weit mehr bewirken, als die Summen vermuten lassen, die dafür aufgewendet werden.

Der dritte Weg zwischen Weitermachen und Streichen

Um den Kern herum gibt es viele wünschbare Aktivitäten und Tätigkeiten. Der bisherige Pfad der gleichmäßigen Verteilung des Mangels entzieht den Kernprozessen die nötige Unterstützung und setzt andere Bereich unter ständigen und entmutigenden Sparzwang.

Die weiterführende Antwort auf diese Lage besteht darin, die Finanzierung zu verändern. Nicht Einstellung oder Schließung ist zu diskutieren - es geht darum, sie mit Hilfe noch vorhandener Mittel in einem Überleitungsprogramm wirtschaftlich lebensfähiger zu machen. Das Not-Wendige muss eine Institution mit Sicherheit und verläßlich anbieten. Das Wünschenswerte kann soweit und solange angeboten werden, soweit es von Mitgliedern gewünscht - und (mit-)finanziert wird.

Ein Teil dieser Aktivitäten wird höhere Einnahmen erzielen können. Ein anderer Bereich, der nicht "auf den Markt" gehen kann oder will, kann sich über Sponsoren oder über besondere Mitgliedschaft neue Mittel erschließen. Im Falle des Mißlingens muss die Unterstützung allerdings begrenzt sein, so dass diese Arbeitsbereiche und die dort Mitarbeitenden einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind. Deswegen müssen sie auch erweiterte Möglichkeiten haben, wirtschaftliche Erfolge zu erzielen und Rücklagen oder sogar Eigenkapital zu bilden.

Den Mitglieder gegenüber kann deutlich gemacht werden, dass die "Kernleistungen" der Kirche - wie sie sie ja auch nach allen Umfragen selbst so definieren - ihnen zeitnah und kompetent und ohne weitere Kosten zur Verfügung stehen, dass aber zusätzliche Angebote auch von ihrer Seite einen zusätzlichen Beitrag erforderlich machen.

Durch einen dritten Weg zwischen dem "Streichen" und "Weitermachen" kann sich die evangelische Kirche Beziehungen, Kenntnisse und Kreativität in weiten Feldern erhalten und erschließen und setzt vielleicht gerade durch den wirtschaftlichen Anpassungsdruck neue Kreativität frei. Leitung wird "nur" darauf zu achten haben, dass diese Bereiche mit ihrer unbestreitbaren Anziehungskraft nicht zuviel Aktivität des "Stammpersonals" abziehen und trotz ihrer relativen Selbständigkeit ihre Beziehung zur Gesamtaufgabe nicht aus den Augen verlieren. Auch was sich selber trägt, muss geleitet, d.h. in das größere Ganze eingefügt werden.

Gänzlich neu ist dies alles natürlich nicht. Das Neue an diesem Vorschlag besteht darin, diesen Weg bewußt, systematisch und gut unterstützt zu gehen. Dann ist allerdings nicht weniger als ein tiefgreifender Kulturwandel auch in diesem Bereich die Folge. Auch durch diesen Weg lassen sich schmerzliche Prozesse des Verzichts, des Abschiedes oder auch des Verlustes nicht vermeiden, aber er vermindert das Gefühl des Ausgeliefertseins und gibt einen Rahmen für Kreativität, Eigenverantwortung und Initiative von Mitarbeitenden.

Herbert Lindner

In dieser Form bislang unveröffentlicht. Alle Rechte beim Verfasser.

Prof. Dr.Herbert Lindner / Birkenstr. 42 /90537 Feucht

Tel. 0 91 28 / 92 05 62  Fax 0 91 28 / 92 05 63

eMail: herbert-lindner.de

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